September 2019: Arbeiterkinder – UND IHR KÖNNT ES DOCH!

Arbeiterkinder, Studenten der ersten Generation oder Studenten aus Nichtakademiker-Familien – es gibt diese schillernde und seltene Spezies tatsächlich. Leider viel zu wenige. Dem Hochschulbildungsreport zufolge beginnen gerade einmal 21 Prozent der Kinder aus Nichtakademikerhaushalten ein Studium, unter den Akademikerkindern sind es 74 Prozent. Und während rund ein Drittel der Arbeiterkinder das Studium abbricht, sind es bei den Akademikern nur 15 Prozent. Zu Beginn des neuen Studienjahres ist es mir ein Anliegen, dieser seltenen Spezies aufmunternde Worte mit auf den Weg zu geben.

Und das tue ich, da auch ich zu dieser seltenen Spezies gehöre und auch heute noch – 40 Jahre nach Beginn meines Studiums – ungehalten werde, ob der Aussagen, dass wir in unserem Bildungssystem doch alle die gleichen Chancen hätten. Diese Mähr glaube ich heute noch weniger als damals.

Die Ungleichheit im Bildungssystem beginnt schon ganz früh: Heutzutage sind Eltern Teil des Schulsystems geworden. Dies sehe ich in meiner unmittelbaren Umgebung und wird durch die Aussagen meiner Kollegen und Kolleginnen bestätigt: „Sorry – keine Zeit: meine Tochter muss noch ein Referat fertigstellen!“  Wohlgemerkt – eigentlich das Referat der Tochter, nicht der Eltern. Aber heutzutage – noch mehr wie zu meiner Zeit – wird von den Eltern erwartet, dass sie Hausaufgaben mitmachen, Referate vorbereiten usw. Wenn man keine Familie hat, die das leisten kann, ist man verloren. Ganz zu schweigen davon, dass die Digitalisierung des Unterrichts auch entsprechendes Wissen bei den Eltern und das entsprechende Kapital zum Computerkauf voraussetzt.

Und wenn das alles geschafft ist, und man/frau sich als Nichtakademikerkind zu einem Studium entschlossen hat, kämpft man die ersten beiden Semester erst mal damit sich im Studium finanziell über Wasser zu halten – schön ausgedrückt, um seine finanzielle Unabhängigkeit. Da sind Fragen zu klären: Wie bekomme ich meine BaföG-Unterstützung, wieviel bekomme ich, reicht es für die Miete, wieviel muss ich hinzuverdienen, wenn ja, wo bekomme ich einen Job her? Akademikerkinder wachsen damit auf, dass ihre Eltern sagen: Komm, ich besorg dir einen Praktikumsplatz/Ferienjob, wir kennen doch den. Sowas gibt es für Arbeiterkinder nicht, und hinzu kommt, dass man als Arbeiterkind oft eine Riesenabwehr gegen sowas hat. Vitamin B? Das brauche ich nicht – ich will durch Leistung überzeugen. Leistung ist zwar wichtig – aber eben nicht alles. Das muss man auch erst mal lernen und vor allen Dingen akzeptieren. Und dann immer der Gedanke daran, egal, wieviel man arbeitet und rackert: BaföG – das sind erst mal Schulden, die auch wieder abbezahlt werden müssen.

Und dann – nach diesen anfänglichen finanziellen Problemen – kommen die restlichen Studienjahre. Hier tritt dann, nachdem man die finanziellen Schwierigkeiten einigermaßen im Griff hat, eine andere Schwierigkeit auf. Es ist das sich bewegen lernen auf einem ganz anderen Parkett, in einem ganz anderen Milieu. Arbeiterkinder sitzen – egal wie formvollendet – zwischen den Stühlen. Auf der Uni gelten ganz andere Spielregeln, sind ganz andere Themen gefragt als zu Hause. Was vor allem fehlt, und das wird einem jetzt in dieser Phase immer mehr bewusst, ist das kulturelle Kapital: Sprache, Wissen. Dass man schon als Kind ins Theater gegangen und in den Ferien nicht zu Hause auf dem Bauernhof oder im Geschäft geholfen hat, sondern nach Frankreich gefahren ist und dort Bildungsurlaub – Sprachreise gemacht hat. Ein Vorsprung der für Akademikerkinder in diesem Milieu „Uni“ geschaffen wird, der nur schwer aufzuholen ist. Vor allen Dingen, wenn – wie so oft – auf der anderen Seite eine gewisse Entfremdung – eine gewisse Emigration – aus der eigenen Familie steht. Das alles geht ans Innere – ans Eingemachte!

Aber – lasst es euch sagen: ES IST ZU SCHAFFEN! Mit der uns Arbeiterkindern eigenen Bodenständigkeit, dem Fleiß, dem Quentchen Ehrgeiz, und der hohen Frustrationstoleranz ist es zu schaffen. Und vielleicht kommt ihr trotz aller Mühen dann auch mal dahin, wo ich hingekommen bin: diesen meinen Lebensweg als Privileg zu betrachten: das Privileg zwei Welten zu kennen und beide Welten wertzuschätzen. Schiller und Dürer sind wunderbar, aber die Trauben zu ernten, nachdem man bei Wind und Wetter das ganze Jahr über im Weinberg gestanden hat, hat definitiv auch was für sich. Es ist – ebenso wie das Beherrschen eines Handwerks – genauso wertzuschätzen und wichtig wie das Wissen darüber wer Goetz von Berlichingen sein berühmtes Zitat „LMAA“ sagen ließ. Und ab und zu mal diesen Satz zu sagen, hilft auch während der Studienzeit als Arbeiterkind!